Der Amerikaner Curtis Dawkins ist ein Glücksfall für jede PR-Abteilung eines Verlages: Ein zu lebenslanger Haft verurteilter Mörder, der zu einem von Kritikern gefeierter Literaturstar wird. Ja, es gibt ihn noch, liebe Leserinnen und Leser, Bühne auf für den im Dunstkreis der Trump'schen Weltkatastrophe verloren geglaubten amerikanischen Traum, der auch nicht vor Gitterstäben halt macht. Dawkins, ein ehemals unbescholtener US-Bürger und Familienvater, obendrein ein Absolvent für Literarisches Schreiben der Western Michigan University, erschießt eines Tages auf Crack einen Mann. Nun sitzt er, bis er sterben wird, und schreibt. Und zwar Literatur, so der Klappentext seines deutschen Verlages Suhrkamp, „die taumeln lässt“.
Die Short Stories, die Dawkins aus seiner Zelle heraus schreibt und die in dem Band Alle meine Freunde haben wen umgebracht (engl. Originaltitel: The Graybar Hotel) nun erstmals erschienen sind, haben mit dem amerikanischen Traum allerdings rein gar nichts zu tun. Es sind ewige Gefangene, von denen Dawkins erzählt, Gestalten eines kaputten Amerikas zwischen Drogenepidemie und brach liegendem Sozialsystem, das durchaus als Wegbereiter für Kleinkriminelle, Betrüger und Dealer ebenso wie Schwerverbrecher und Mörder bezeichnet werden darf. Sie alle landen früher oder später in einem der unzähligen Gefängnisse der USA, hoffnungslos überfüllt und bar jedwedem Anspruch einer Resozialisierung seiner Insassen. Dawkins gelingt es jedoch, all das als Erklärung oder gar Ursache für die Taten seiner Figuren außen vor zu lassen. Der Ich-Erzähler, der sich bis auf ein paar Ausnahmen kontinuierlich durch die insgesamt 14 Geschichten zieht, beobachtet und beschreibt seine Mitgefangenen nüchtern; fast sachlich zeichnet er Tatumstände nach, überhaupt: Die Frage, wie man zu dem geworden ist, was man ist, scheint Dawkins nicht zu interessieren. Das ist die große Stärke dieses Buchs. Hier wird nicht psychologisiert, keine Schuld wird angezweifelt, denn schuldig sind sie alle. Die Sprache Dawkins ist dabei dem Genre der amerikanischen Short Story verpflichtet; umgangssprachlich, manchmal schnoddrig, oft auch lakonisch wird der Gefängnisalltag und seine Insassen beschrieben, zwischen den Zeilen hinterlassen komplexe Themen wie Schuld, Einsamkeit und Reue ihre tiefen Spuren. Die immer gleichen Strukturen in einem sonst strukturlosen Leben lassen das Martyrium einer Monotonie erahnen, der sich Dawkins – so viel ist nach der Lektüre klar – mit dem Schreiben zu entziehen weiß. Dawkins macht seine Zelle zu einer Camera Obscura, als wären Schuld, Reue und Hoffnung Gegenstände, die einen verdunkelten, abgeschlossenen Raum bräuchten, um von allen Seiten betrachtet werden zu können. Und vielleicht sind sie das auch.
Im Gefängnis geschehen Dinge, die einem Verstand entspringen, der immerzu mit dem Wahnsinn liebäugelt.
Am erstaunlichsten an Alle meine Freunde haben wen umgebracht ist aber die in einigen Geschichten völlig überraschende, fast aus dem Hinterhalt kommende Abkehr vom literarischen Realismus. Geschichten über den Knast und seine Bewohner, so möchte man meinen, verlangen geradezu nach einer dem Realismus verpflichteten Erzähltechnik, ja, es scheint die einzig mögliche Erzähltechnik für diesen Themenkomplex zu sein, wenn auch eine ziemlich eindimensionale. Dawkins aber schert sich nicht – und heraus kommt etwa die wunderbar, zwischen Traum und Wirklichkeit changierende Geschichte 573543: Der Ich-Erzähler wacht eines Nachts auf und beobachtet, wie sein Zellengenosse Pepper Pie seinen Arm durch den geschlossenen Fensterschlitz der Zellentür schiebt: „Pepper Pie blieb eine Weile davor stehen und reichte langsam bis zum Ellbogen durch das dicke Glas. Dann kam er nicht mehr weiter, als hätte er das Ende eines unsichtbaren Seils erreicht oder wäre auf eine Barriere gestoßen, die ich nicht sehen konnte. Er zog den Arm zurück in die Zelle und tat das Gleiche noch zweimal, wie Wiederholungen einer seltsamen Übung.“ Pepper Pie übt weiter, „und konnte nach zwei Monaten volle vierundsechzig Sekunden verschwinden und den ganzen Arm mit der halben Schulter durch das Fenster schieben“. Am Ende löst sich Pepper Pie quasi in Luft auf, er entschwindet ganz – in Freiheit?
Dawkins zeichnet Figuren und Szenerien, die in ihrer Dichte und Vielschichtigkeit eine Vermessung großer literarischer Themen wie Schuld, Reue und Hoffnung ermöglichen. Er vermeidet jede Form des falschen Mitleids für seine Figuren und schafft es doch, ihnen eine Menschlichkeit und Würde zu verleihen, die es dem Lesenden schwer macht, sie nicht zu mögen.
In seiner Danksagung erklärt Dawkins, das Schreiben sei ein „Rettungsboot, das täglich aus dem Nebel hervortreibt.“ Er wird wohl für immer auf dieses Rettungsboot angewiesen sein.
Der Amerikaner Curtis Dawkins ist ein Glücksfall für jede PR-Abteilung eines Verlages: Ein zu lebenslanger Haft verurteilter Mörder, der zu einem von Kritikern gefeierter Literaturstar wird. Ja, es gibt ihn noch, liebe Leserinnen und Leser, Bühne auf für den im Dunstkreis der Trump'schen Weltkatastrophe verloren geglaubten amerikanischen Traum, der auch nicht vor Gitterstäben halt macht. Dawkins, ein ehemals unbescholtener US-Bürger und Familienvater, obendrein ein Absolvent für Literarisches Schreiben der Western Michigan University, erschießt eines Tages auf Crack einen Mann. Nun sitzt er, bis er sterben wird, und schreibt. Und zwar Literatur, so der Klappentext seines deutschen Verlages Suhrkamp, „die taumeln lässt“.
Die Short Stories, die Dawkins aus seiner Zelle heraus schreibt und die in dem Band Alle meine Freunde haben wen umgebracht (engl. Originaltitel: The Graybar Hotel) nun erstmals erschienen sind, haben mit dem amerikanischen Traum allerdings rein gar nichts zu tun. Es sind ewige Gefangene, von denen Dawkins erzählt, Gestalten eines kaputten Amerikas zwischen Drogenepidemie und brach liegendem Sozialsystem, das durchaus als Wegbereiter für Kleinkriminelle, Betrüger und Dealer ebenso wie Schwerverbrecher und Mörder bezeichnet werden darf. Sie alle landen früher oder später in einem der unzähligen Gefängnisse der USA, hoffnungslos überfüllt und bar jedwedem Anspruch einer Resozialisierung seiner Insassen. Dawkins gelingt es jedoch, all das als Erklärung oder gar Ursache für die Taten seiner Figuren außen vor zu lassen. Der Ich-Erzähler, der sich bis auf ein paar Ausnahmen kontinuierlich durch die insgesamt 14 Geschichten zieht, beobachtet und beschreibt seine Mitgefangenen nüchtern; fast sachlich zeichnet er Tatumstände nach, überhaupt: Die Frage, wie man zu dem geworden ist, was man ist, scheint Dawkins nicht zu interessieren. Das ist die große Stärke dieses Buchs. Hier wird nicht psychologisiert, keine Schuld wird angezweifelt, denn schuldig sind sie alle. Die Sprache Dawkins ist dabei dem Genre der amerikanischen Short Story verpflichtet; umgangssprachlich, manchmal schnoddrig, oft auch lakonisch wird der Gefängnisalltag und seine Insassen beschrieben, zwischen den Zeilen hinterlassen komplexe Themen wie Schuld, Einsamkeit und Reue ihre tiefen Spuren. Die immer gleichen Strukturen in einem sonst strukturlosen Leben lassen das Martyrium einer Monotonie erahnen, der sich Dawkins – so viel ist nach der Lektüre klar – mit dem Schreiben zu entziehen weiß. Dawkins macht seine Zelle zu einer Camera Obscura, als wären Schuld, Reue und Hoffnung Gegenstände, die einen verdunkelten, abgeschlossenen Raum bräuchten, um von allen Seiten betrachtet werden zu können. Und vielleicht sind sie das auch.
Am erstaunlichsten an Alle meine Freunde haben wen umgebracht ist aber die in einigen Geschichten völlig überraschende, fast aus dem Hinterhalt kommende Abkehr vom literarischen Realismus. Geschichten über den Knast und seine Bewohner, so möchte man meinen, verlangen geradezu nach einer dem Realismus verpflichteten Erzähltechnik, ja, es scheint die einzig mögliche Erzähltechnik für diesen Themenkomplex zu sein, wenn auch eine ziemlich eindimensionale. Dawkins aber schert sich nicht – und heraus kommt etwa die wunderbar, zwischen Traum und Wirklichkeit changierende Geschichte 573543: Der Ich-Erzähler wacht eines Nachts auf und beobachtet, wie sein Zellengenosse Pepper Pie seinen Arm durch den geschlossenen Fensterschlitz der Zellentür schiebt: „Pepper Pie blieb eine Weile davor stehen und reichte langsam bis zum Ellbogen durch das dicke Glas. Dann kam er nicht mehr weiter, als hätte er das Ende eines unsichtbaren Seils erreicht oder wäre auf eine Barriere gestoßen, die ich nicht sehen konnte. Er zog den Arm zurück in die Zelle und tat das Gleiche noch zweimal, wie Wiederholungen einer seltsamen Übung.“ Pepper Pie übt weiter, „und konnte nach zwei Monaten volle vierundsechzig Sekunden verschwinden und den ganzen Arm mit der halben Schulter durch das Fenster schieben“. Am Ende löst sich Pepper Pie quasi in Luft auf, er entschwindet ganz – in Freiheit?
Dawkins zeichnet Figuren und Szenerien, die in ihrer Dichte und Vielschichtigkeit eine Vermessung großer literarischer Themen wie Schuld, Reue und Hoffnung ermöglichen. Er vermeidet jede Form des falschen Mitleids für seine Figuren und schafft es doch, ihnen eine Menschlichkeit und Würde zu verleihen, die es dem Lesenden schwer macht, sie nicht zu mögen.
In seiner Danksagung erklärt Dawkins, das Schreiben sei ein „Rettungsboot, das täglich aus dem Nebel hervortreibt.“ Er wird wohl für immer auf dieses Rettungsboot angewiesen sein.
Curtis Dawkins: Alle meine Freunde haben wen umgebracht
Suhrkamp
Übersetzt von Hannes Meyer
Klappenbroschur, 212 Seiten
ISBN: 978-3-518-46857-9
Erschienen: 12.03.2018