Europa, ein Bluterguss

Robert Menasse hat es schwer bei mir. Denn sein 1991 erschienener Roman Selige Zeiten, brüchige Welt ist nichts weniger als mein Buch, das Buch, das ich jedem empfehle, der wissen will, was es denn auf sich hat mit diesem Ding, das man Leben nennt. Ja, ich wage zu behaupten: Menasse schrieb es für mich. Und das kann, das soll nicht übertroffen werden, auch nicht vom Meister selbst. Man will seinem Liebling treu bleiben, einen Superlativ gibt man nur ungern auf. Nicht auszumalen aber wären die Auswirkungen eines neuen und schlechten Menasse: Ein störend schaler Beigeschmack würde sich zwischen meine Liebe zu Selige Zeiten, brüchige Welt drängen, meine Verehrung für Menasse … sie wäre dahin. Sie merken schon, die Beziehung zwischen Robert Menasse und mir ist eine komplizierte, meine Liebe ist keinesfalls bedingungslos.

Aber nun doch. Seinen neuen Roman Die Hauptstadt, ich habe ihn gelesen. Ich war zu neugierig, zu leichtsinnig vielleicht, ich habe es kühn darauf ankommen lassen.

Den Auftakt macht ein Schwein. Es rennt durch die Straßen von Brüssel, niemand weiß woher es kommt, wohin es verschwindet, es ist nicht zu fassen. Dieses Schwein, es ist ein Kuriosum, ein Ärgernis. Es taucht immer wieder auf in Die Hauptstadt, ein Roman über die Europäische Union, über Europa, ja, über die Europäische Idee. Doch was hat ein Schwein mit Europa zu tun? Die Antwort bleibt in der Schwebe, doch mich beschleicht schnell das Gefühl: Dieses Brüssel, Sitz der EU-Kommission und Karrierebooster für machtgeile EU-Beamte .... es stinkt. Bis zum Himmel. Und überhaupt: Diese EU-Kommissare, mit Verlaub, das sind doch alles Schweine.
Menasses Die Hauptstadt kann man durchaus als Satire lesen: Die EU-Kommission als Schauplatz durchtriebener, aber im gleichen Maße bornierter Beamte wie Fenia Xenopoulou, die sich schon lange nicht mehr für das große Ganze interessiert, sondern ihren verhassten Posten als Leiterin des „Alibi-Ressorts“ für Kultur schnellstmöglich loswerden will – es locken wichtigere, mächtigere Ressorts. Helfen soll ihr dabei das „Jubilee Project“, eine Maßnahme, um das doch sehr angekratzte Image der EU-Kommission aufzupolieren. Ein Event muss also her, das die Bedeutsamkeit der EU widerspiegelt. Und ja, tatsächlich, da ist doch was gewesen ... Auschwitz, und das Versprechen „Nie wieder!“, damit lässt es sich arbeiten, oder besser gesagt feiern.

Pointiert und kurzweilig beschreibt Menassse die absurden Auswüchse eines verkommenen Beamtensystems, den unverbindlichen Lesespaß jedoch bricht der österreichische Autor, indem er das Geschehen durch Figuren und deren Lebensgeschichten erweitert, die der Farce des EU-Betriebes eine ernste, verstörende Perspektive entgegensetzen. Da wären der polnische Auftragsmörder Mateusz Oswiecki, der Auschwitz-Überlebende David de Vriend, der belgische Komissar Émile Brunfaut. Sie alle tummeln sich zur selben Zeit in Brüssel, ihre Wege kreuzen sich lose, sind aber durch ihre Familiengeschichten untrennbar miteinander verwoben. Es sind europäische Biografien, geprägt durch Kriege, Flucht, Schuld und Verlust. Dass es hier um viel mehr geht, als lediglich einen kaputten Beamtenverband durch den literarischen Kakao zu ziehen, zeigt sich am stärksten in der Figur Alois Erhart, ein emeritierter Wiener Volkswirtschaftsprofessor, der nach Brüssel reist, um an einem Think-Tank zum Thema Europa teilzunehmen. Er ist die moralische Instanz des Romans, die mahnende Stimme vergangener und bald vergessener Tage. Er erinnert den Lesenden an den ursprünglichen Gründungsgedanken der Europäischen Union, nämlich die Überwindung der Nationalstaaten sowie die Förderung und Wahrung gemeinsamer Interessen. Wer die politischen Essays Menasses kennt oder sich einen seiner zahlreichen Vorträge zum Thema Europa angehört hat (verfügbar auf YouTube), der erkennt in Alois Erhart zweifelsohne das Alter Ego Menasses. Menasse ist konsequenter Verfechter der europäischen Idee, unermüdlich erinnert er an das Ereignis, das überhaupt erst die Gründung eines staatenübergreifenden Verbunds notwendig machte: Der Zweite Weltkrieg, die Gräueltaten von Auschwitz. Und auch der fiktive Alois Erhart frischt das Gedächtnis der Teilnehmer des Think-Tanks auf, auch wenn es scheinbar niemand hören will, niemanden mehr zu interessieren scheint.

Im Kern ist Die Hauptstadt ein zutiefst pragmatisches Buch. Menasse nutzt die literarische Gattung Roman als Mittel zum Zweck, um die Europäische Idee zu verteidigen, die Notwendigkeit der Europäischen Union zu verdeutlichen. Das ist durchaus legitim, denn um eine breite Öffentlichkeit zu erreichen, braucht es mehr als scheinbar unzugängliche politische Essays; die Masse will sich unterhalten wissen, ein Roman mit Handlung, spannendem Krimi-Plot und einer Brise Sex muss her. Mit ähnlichem Erfolg ist das wohl zuletzt dem amerikanischen Autor Dave Eggers mit seinem 2013 erschienenen Roman The Circle gelungen. Eine Geschichte über eine übermächtige Internetfirma, eine Schreckensvision von permanenter Überwachung und Transparenz. Unfassbar schlecht geschrieben und voller Klischees wurde The Circle zu einem weltweiten Bestseller.
Aber zum Glück muss ich meinen Menasse nicht in den selben Topf literarischer Mittelmäßigkeit werfen, dazu ist Die Hauptstadt zu souverän geschrieben, zu intelligent komponiert. Doch herausragende Literatur ist eben nicht nur Mittel zum Zweck, Sprache nicht nur Instrument für das, was gesagt werden muss. So ist der Roman auch dort am stärksten, wo Menasse Bilder findet, die für sich sprechen, die nicht erklärt werden müssen, Bilder, die in ihrer Tragweite das ganze Dilemma, die ganze Misere offenbaren. Etwa, wenn Alois Erhart sich sein Hämatom, das er sich versehentlich am Arm zugezogen hat, als Tätowierung mit 12 fünfzackigen Sternen verewigen will, denn seine Form erinnert ihn an den europäischen Kontinent. Doch der Tätowierer sträubt sich: „ ... die Proportionen stimmen nicht“, sagt er, „Es ist, nein, das ist nicht Europa, das ist ein Zerrbild. Da sind Blutgefäße verletzt, Kapillaren geplatzt, da steche ich nicht rein, das kann ich nicht kontrollieren. Ich würde das nicht anrühren. Und in ein paar Wochen ist das sowieso verschwunden. Dann hätten sie da Sterne, aber der Grund ist verschwunden …“.

Solche Szenen sind allzu rar in Menasses Die Hauptstadt, aber das zu kritisieren, fällt mir schwer angesichts des thematischen Gewichts des Romans. Es braucht dieses Buch, es war überfällig, vielleicht ist es schon zu spät dran, hoffentlich aber wird es gerade rechtzeitig gelesen. Denn der Rechtsruck in Europa nimmt zu und mit ihm auch die Abneigung gegen die Europäische Union. Menasse stemmt sich schreibend dagegen. Dafür hat er den Deutschen Buchpreis erhalten.

Und wie steht es nun mit Menasse und mir? Der Bann, würde ich meinen, ist gebrochen, ich will mehr Menasse, ganz schnell will ich ihn wieder lesen. Ich hoffe, er schreibt schon an einem neuen Roman, schreibt ihn wieder für mich. Ganz bestimmt.


Robert Menasse: Die Hauptstadt
Suhrkamp Verlag
Erschienen: 11.09.2017
Gebunden, 459 Seiten
ISBN: 978-3-518-42758-3