Terra incognita DDR

Wer kennt ihn nicht, den niedlichen „Trabbi”, das Auto der Ossis, das nach der deutsch-deutschen Wiedervereinigung zum Symbol der DDR wurde, zum ulkigen Liebhaber- und Museumsstück argloser DDR-Nostalgie. Der Trabant ist auch das Objekt, auf das die Heldin Johanna aus Paula Fürstenbergs Debütroman Familie der geflügelten Tiger zeigt, als sie gefragt wird, wohin sie denn gerne mal verreisen wolle.
Die DDR ist die geheime und geheimnisvolle Protagonistin dieses bemerkenswerten Romans von Paula Fürstenberg, es ist der Sehnsuchtsort der Ich-Erzählerin Johanna, dort, nur ein paar Wochen vor dem Mauerfall, verschwand ihr Vater. Da war sie gerade zwei.

Familie der geflügelten Tiger erzählt von der Suche einer Tochter nach ihrem Vater, aber mehr noch ist es die Geschichte einer Generation, die in den Nachwehen der deutsch-deutschen Wiedervereinigung aufwächst als Kinder ehemaliger DDR-BürgerInnen. „Wendeverlierer“, so nennt Johanna die vom Goldenen Westen Enttäuschten, die sich nie so ganz einrichten konnten im wiedervereinigten Deutschland. Auch Johannas Mutter fällt in diese Kategorie: In der DDR arbeitete die ausgebildete Tierärztin als Leiterin eines Tierheims, jetzt mistet sie Ställe aus und päppelt in ihrer Freizeit kranke Findeltiere auf. „Die Wahrheit war doch“, so Johanna, „dass meine Mutter mit ihren Fundtieren, die drei Hunde, vierzehn Katzen und einunddreißig Kaninchen wieder einsammelte, die sie nach dem Mauerfall ausgesetzt hatte.“ Aber auch Johanna will das Verlorengegangene wieder einfangen. Als sich ihr Vater nach 19 Jahren bei ihr meldet, glaubt sie, endlich den Schlüssel zu ihrer Vergangenheit gefunden zu haben. War ihr Vater in den Westen geflüchtet, um ein großer Rockstar zu werden, wir ihre Mutter behauptet? Oder wurde er von der Stasi verhaftet? Die Frage nach dem Warum seines Verschwindens kann er ihr jedoch schon nicht mehr beantworten. Mit Krebs im Endstadium und zerstörtem Sprachzentrum verstummt er genau in dem Moment, als Johanna ihn zur Rede stellen will.

Mit leiser Melancholie und zurückhaltendem Witz erzählt Paula Fürstenberg von der Notwendigkeit, die eigene Herkunft zu verstehen, um sich von der Vergangenheit lösen zu können. Und sie erzählt von den psychischen Mechanismen und Ersatzhandlungen, die unser Leben beherrschen, wenn die Herkunft ein Rätsel bleibt: Anders als ihre Mutter, hat Johanna die DDR nie selbst erlebt, sie bleibt ein weißer Fleck auf ihrer biografischen Landkarte. Diese Lücke kompensiert sie, indem sie Landkarten, Städteführer und Weltkarten sammelt, denn sie schenken Orientierung und Übersicht, sie veranschaulichen den eigenen Standort innerhalb komplexer Territorien, und liegt nicht gerade in dieser Reduktion das Versprechen von Erkenntnis? Auch ihre Ausbildung zur Straßenbahnfahrerin in Berlin, die Strecken, die sie abfährt, zuerst mit dem Finger auf dem Stadtplan und dann im Führerhaus auf den Schienen vom ehemals geteilten Berlin: Es sind Spuren, denen sie folgt, immer wieder, Tag ein Tag aus, aber niemals zielführend.
Paula Fürstenberg nähert sich der tiefen Verunsicherung ihrer Heldin mit einer lakonischen, behutsamen Sprache und einer durchaus raffinierten Verflechtung unterschiedlicher Erzählebenen. Familie der geflügten Tiger hat nicht den Anspruch, die Gefühlslage einer bestimmten Generation zu beschreiben – und ist vielleicht gerade deswegen ein gelungenes Psychogramm all jener, die mit sogenannten „Wendelverlierern“ aufwuchsen. Der bittere Nachgeschmack verlorengegangener Heimat, das Fremdeln gegenüber der Gegenwart, all das prägt Johannas Kindheit, das verleibt sie sich ein. Irgendwann beginnt sie, sich ihre Herkunft selbst herbeizuschreiben, die Lücken zu schließen mit selbst erdachten Fakten, fake news sozusagen. Aber vielleicht ist es gerade das, was eine selbstbestimmte Biografie ausmacht: Dass wir sie selbst schreiben.


Paula Fürstenberg: Familie der geflügelten Tiger
Kiepenheuer&Witsch
240 Seiten
ISBN: 978-3-462-04875-9
Erschienen am: 11.08.2016